Die Betreuungsverfügung und der Grundsatz der Erforderlichkeit

Die Betreuungsverfügung und der Grundsatz der Erforderlichkeit

Ein Beitrag aus unserer Reihe: Entscheidungen im Fokus

Die Betreuungsverfügung gehört zum den Vorsorgeregelungen, die Du bereits erstellen kannst, wenn es Dir noch gut geht. Damit legst Du schriftlich fest, wer Dich in rechtsgeschäftlichen Angelegenheiten vertreten kann/soll, wenn Du selbst nicht (mehr) in der Lage dazu bist.

Von der Entmündigung zum rechtlichen Betreuer – die Historie

Früher wurden Menschen, die sich nicht mehr selbst äußern konnten, entmündigt oder unter eine Vormundschaft gestellt. Doch 1992 ist die rechtliche Betreuung als Rechtsfürsorge in das Betreuungsgesetz aufgenommen worden. Daraus ergaben sich deutliche Verbesserungen für die Betroffenen. Anfang 2023 wurde eine noch konsequentere Ausrichtung hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechts der betreuten Personen im Gesetz verankert.

Die Voraussetzungen für den Einsatz eines Betreuers sind im § 1814 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zu finden:

(1) Kann ein Volljähriger seine Angelegenheiten ganz oder teilweise rechtlich nicht besorgen und beruht dies auf einer Krankheit oder Behinderung, so bestellt das Betreuungsgericht für ihn einen rechtlichen Betreuer (Betreuer).
(2) Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden.
(3) Ein Betreuer darf nur bestellt werden, wenn dies erforderlich ist. Die Bestellung eines Betreuers ist insbesondere nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen
1. durch einen Bevollmächtigten, der nicht zu den in § 1816 Absatz 6 bezeichneten Personen gehört, gleichermaßen besorgt werden können oder
2. durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, erledigt werden können, insbesondere durch solche Unterstützung, die auf sozialen Rechten oder anderen Vorschriften beruht.
(4) Die Bestellung eines Betreuers erfolgt auf Antrag des Volljährigen oder von Amts wegen. Soweit der Volljährige seine Angelegenheiten lediglich aufgrund einer körperlichen Krankheit oder Behinderung nicht besorgen kann, darf ein Betreuer nur auf Antrag des Volljährigen bestellt werden, es sei denn, dass dieser seinen Willen nicht kundtun kann.
(5) Ein Betreuer kann auch für einen Minderjährigen, der das 17. Lebensjahr vollendet hat, bestellt werden, wenn anzunehmen ist, dass die Bestellung eines Betreuers bei Eintritt der Volljährigkeit erforderlich sein wird. Die Bestellung des Betreuers wird erst mit dem Eintritt der Volljährigkeit wirksam. (Quelle: 
Gesetze im Internet, Stand 19.07.2024)

Details zum Betreuungsrecht

Das Betreuungsgericht entscheidet per Einzelfallprüfung darüber, wer die Betreuung übernehmen wird und in welchem Umfang. Das resultiert aus dem Grundsatz der Erforderlichkeit, der eine wichtige Errungenschaft in der aktuellen Regelung ist und lässt sich aus Satz 3 (s. o.) ableiten. Dabei steht die Selbstbestimmung im Vordergrund: Rechtseingriffe werden auf ein Mindestmaß beschränkt und sind immer am individuellen Bedarf ausgerichtet. Sofern es sich um allgemeine und keine rechtsgeschäftlichen Angelegenheiten handelt, wird im Sinne der Selbstbestimmung auf die Bestellung eines Betreuers verzichtet. Hilfe kann pragmatisch organisiert werden und richtet sich nach den vorliegenden Verhältnissen. Viele Unterstützungsleistungen lassen sich durch Familienmitglieder oder anderweitige Dienste, wie z. B. eine Haushaltshilfe, eine Schuldnerberatung oder soziale Dienste und Behörden abdecken.

Vom Gericht wird grundsätzlich geprüft, ob eine Betreuerbestellung erforderlich ist. Wenn ja, werden die voraussichtliche Dauer sowie die Voraussetzungen für die Betreuung und die genauen Aufgabenbereiche im Einzelnen angeordnet. Es geht dabei ausschließlich um rechtliche Belange in den Bereichen Wohnungsangelegenheiten, Vermögenssorge (alle finanziellen Belange) und Gesundheitssorge.

Schriftliche Definition als Empfehlung für das Gericht

Wenn Du Dich nicht auf eine gerichtliche Bestellung eines Dir unbekannten Betreuers verlassen willst, kannst Du und eine Betreuungsverfügung aufsetzen. Sie sollte schriftlich abgefasst und optimalerweise mit der benannten Person abgestimmt sein. Damit ist Dein Wunsch definiert und für die Gerichte vorrangig zu beachten. Dennoch prüft das Gericht die Eignung der von Dir genannten Person. Sollten Voraussetzungen nicht erfüllt sein und Gründe dagegensprechen, kann das Gericht davon abweichen und einen anderen Betreuer benennen. Im Regelfall wird in Deinem persönlichen Umfeld nach alternativen Möglichkeiten gesucht. Bleibt dies erfolglos, wird vom Gericht ein Berufsbetreuer eingesetzt.

In der Zeit bis zum Gerichtsentscheid gibt es keine rechtliche Vertretung, außer Du hast bereits eine Vorsorgevollmacht hinterlegt. In diesem Fall greift die Betreuungsfunktion sofort und vollumfänglich, ohne dass ein Gerichtsbeschluss abgewartet werden muss. (siehe auch Abschnitt „Unterschied Betreuungsverfügung und Vorsorgevollmacht“)

Es besteht die Möglichkeit, mehrere Betreuer für unterschiedliche Lebensbereiche oder Situationen einzusetzen. Dies kannst Du ebenfalls hinterlegen.

Was lässt sich in der Betreuungsverfügung regeln?

Du kannst aufschreiben, wen Du Dir als Betreuer wünschst oder auch, von wem Du auf gar keinen Fall betreut werden möchtest. Du kannst eigene Wünsche zur Betreuung hinterlegen. An diese muss sich der Betreuer halten, sofern sie Deinem Wohl nicht widersprechen oder für den Betreuer unzumutbar sind. Du kannst darlegen, wo Du wohnen möchtest und wer Deine Finanzen verwalten soll. Du entscheidest, welche (rechtlichen) Aufgaben der Betreuer übernehmen soll und wie Du Dir die Entscheidungen in medizinischen Fragen vorstellst.

Doch Achtung: „Die Wünsche zur Betreuung“ – das hört sich schön an und vielleicht entsteht bei Dir der Gedanke von einer alltäglichen Begleitung und einer netten Hilfe beim Einkaufen oder im Haushalt. Doch das ist ein Irrtum. Der Betreuer darf sich nur in den vom Gericht angeordneten Aufgabenbereichen bewegen und dabei geht es nicht um die alltäglichen Dinge, bei denen Unterstützung benötigt wird. Diese Aufgaben müssen je nach Bedarf durch andere Personen oder Dienste erledigt werden.

Frage Dich bei der Auswahl einer Betreuungsperson, ob die Person in Deinem Sinne entscheiden wird und ob sie die „Bürde“ übernehmen möchte, sich um Deine Angelegenheiten zu kümmern. Eine kostenlose Vorlage für die Betreuungsverfügung findest Du beim Bundesministerium für Justiz. Das unterschriebene Formular kannst Du (wie auch die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht) beim Zentralen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer registrieren lassen.

Unterschied Betreuungsverfügung und Vorsorgevollmacht

Die Betreuungsverfügung definiert die Gestaltung der vom Gericht angeordneten Betreuung. Du kannst konkrete Anweisungen an den Betreuer darin aufnehmen, die dann beachtet werden sollen. Du kannst die Verfügung jederzeit anpassen oder ändern.

Die Vorsorgevollmacht beinhaltet keine gerichtliche Prüfung und die benannte Vertrauensperson kann mit sofortiger Wirkung alle Rechte, die Du ihr eingeräumt hast, ausüben. Sie kann sofort rechtsverbindlich für Dich tätig werden und in Deinem Sinne entscheiden.

Bei der Betreuungsverfügung solltest Du wissen, dass keiner für Dich handeln kann, wenn Du z. B. im Koma liegst, eine Betreuungsverfügung hinterlegt hast und das Gericht noch keine Entscheidung getroffen hat. Beachte also, dass der Prozess bis zur Benennung des Betreuers seine Zeit dauert. Das hängt mit dem Grundsatz der Erforderlichkeit zusammen. Das Gericht prüft genau, in welchen Bereichen die Betreuung notwendig ist, um Dir ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und die Eingriffe durch andere Personen gering zu halten. Zudem hat sie Gültigkeit, falls die Vorsorgevollmacht unwirksam sein sollte.

Als weitere Vorteile der Betreuungsverfügung lassen sich noch die (nachgelagerten) Kontrollmechanismen aufführen, denen sich die die ehrenamtlichen und beruflichen Betreuer stellen müssen. Damit soll ein möglicher Missbrauch eingeschränkt werden, wie z. B. die jährliche Auskunft über die Amtsführung und die persönlichen Verhältnisse des zu Betreuenden sowie des Rechenschaftsberichts über die Verwaltung des Vermögens. Bei der Vorsorgevollmacht entfällt die Kontrolle des Betreuers durch das Gericht, da es sich um einen privat-rechtlichen Vertrag handelt.

Fazit

Die Betreuungsverfügung ist ein Teilbereich Deiner Vorsorgedokumente, der wichtig werden kann und Deine Wünsche explizit darlegt. Eine Betreuung ist nur möglich, wenn sie Deinem freien Willen entspricht. Die Betreuungsverfügung ist, neben der Vorsorgevollmacht und der Patientenverfügung, eine gute Ergänzung, um in allen Lebensbereichen die für Dich bestmögliche Entscheidung zu treffen, bevor der „Fall des Falles“ wirklich eintritt.

Hier haben wir weitere interessante Links für Dich zusammengestellt:

Bundesministerium der Justiz: Informationen zum Betreuungsrecht

Bundesministerium der Justiz: Vorlage Betreuungsverfügung (Formular als PDF-Datei)

Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer: Eine Betreuungsverfügung kann im Zentralen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer registriert werden.

NDR Ratgeber vom 07.11.2023: Rechtliche Betreuung: Was Betroffene wissen müssen

NDR Ratgeber vom 06.01.2023: Berufsbetreuer: Welche Rechte und Pflichten haben sie?

Unsere Beiträge aus der Reihe „Entscheidungen im Fokus“ interessieren Dich vielleicht auch:

Die Vorsorgevollmacht – Entscheidungen für den Fall der Fälle

Die Patientenverfügung, das verbindliche Recht auf Selbstbestimmung

Ausmisten befreit – und macht sogar glücklich?

Ausmisten befreit – und macht sogar glücklich?

Das Sprichwort „Nur ein Genie beherrscht das Chaos“ habe ich in der Vergangenheit gern bemüht. Doch ich musste vereinzelt feststellen, dass mein Genie auch schwächeln kann, wenn ich meinen Schlüssel oder das Headset mal wieder „verlegt“ hatte und länger danach suchen musste. Dann ärgere ich mich jedes Mal und stelle mir vor, wie entspannt es wäre, wenn alles seinen Stammplatz hätte – und dort auch zu finden wäre 😊.

Aber mit dem Ausmisten ist das so eine Sache: Es fühlt sich an wie ein riesiger Berg Arbeit, der überwunden werden muss und die Lust dazu kommt auch nicht so richtig in Schwung. Doch vielleicht trügt der Schein?

Ich will der Sache auf den Grund gehen und recherchiere. Ich finde Listen und Vorschläge, Vorgehensweisen und mehr oder weniger hilfreiche Tipps. Bei manchem gruselts mich schon beim Durchlesen und einige lassen in mir das Gefühl von „könnte bei mir funktionieren“ entstehen.

Erste Ideen

Was mir gut gefällt, ist die Idee, das Ausmisten in mehrere (kleine) Etappen aufzuteilen und jeweils Zeiteinheiten festzulegen. Ob es 10 Minuten für eine Schublade im Sideboard oder eine ganze Stunde für den Kleiderschrank sein sollten – für mich muss es alltagstauglich sein. Eine Liste mit einer Gesamtübersicht, wo ich für Ordnung sorgen möchte, macht auf jeden Fall auch Sinn.

Wenn ich dann loslege, werde ich viele Entscheidungen treffen müssen – und die werden vermutlich anstrengend und herausfordernd. Um mir das zu erleichtern, überlege ich mir im Vorfeld, was ich mit den Sachen mache, die ich loslassen werde: verkaufen, verschenken, spenden, abgeben usw. Das bringt Klarheit – und schon eine leise Vorahnung, wie es sich anfühlt, wenn ich mit der Aktion fertig bin.

Einen weiteren guten Tipp habe ich bei Ordnungswunder gefunden: Wenn es mir schwerfällt, eine Entscheidung zu treffen und ich es voraussichtlich auf den „behalte ich vielleicht“-Stapel lege, soll ich mir eine Frage stellen: „Habe ich Lust dazu, mich später NOCHMAL mit diesem Gegenstand zu beschäftigen?“ – Ich glaube, das wird meine Entscheidungsfindung um einiges beschleunigen.

Spannend ist für mich auch der Denkansatz „Umgekehrt Ausmisten“, den ich bei deine klare Linie gefunden habe. Dabei geht es um die Fragestellung „Würde ich es nochmal kaufen, wenn es kaputt gehen würde?“ Das macht mir die Entscheidung bei vielen Dingen einfacher, doch mir ist klar, bei den Gegenständen mit einer emotionalen Verbindung, wie Geschenken, Urlaubsandenken, Erbstücken usw. komme ich auch damit nicht weiter.

Mir kommt der Gedanke, dass ich es dann so machen kann, wie mit alten T-Shirts, die ich als Erinnerung von tollen Veranstaltungen und Konzerten mitgenommen habe. Die Trennung fiel mir sehr schwer, obwohl ich sie nicht mehr tragen konnte, so ausgewaschen und löchrig waren sie schon. Damals habe ich mich entschieden, Fotos davon zu machen und habe diese in einen „Andenken-Ordner“ auf dem Rechner gespeichert. Damit fühlte ich mich damals ganz wohl und denke, dass das auch mit anderen emotional behafteten Gegenständen funktionieren wird.

Meine ungelösten Probleme

Damit ist der Anfang durchdacht, jetzt muss ich nur noch zwei „Probleme“ lösen.

Zum einen muss ich mir überlegen, wie ich das Thema „einsortieren“ und das Endprodukt „jedes Ding hat seinen Platz“ angehen kann. Davor graut es mir am meisten, weil mir beim Aufräumen in mehreren Etappen die Übersicht für den Platzbedarf fehlt. Und ich habe keine Lust, alles mehrfach ein- oder umzuräumen, weil ich im Laufe der Aktion feststelle, dass räumlich doch nicht alles in die geplante Schublade passt und ich einen etwas höheren Platzbedarf benötige, um alles Zusammengehörige an einem Ort zu haben.

Zum anderen frage ich mich, wohin mit den aussortieren Gegenständen, bis ich endgültig fertig bin? Denn die Abfuhr-, Wegbring-, Spenden- und Verkaufsaktionen möchte ich nicht mehrmals in Angriff nehmen. Ich werde wohl einen Platz finden müssen, an dem ich alles sammeln kann, ohne dass es mich über die Zeit der Gesamt-Aktion massiv stört.

Meine Frage an Dich

Also bin ich von „glücklich“ noch etwas weiter weg, denn zur Lösung meiner beiden Probleme habe ich bei meinen Recherchen nichts gefunden. Und offen gesprochen: Die ganze Aktion wird bei mir einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen, weil ich kleinere Etappen viel besser in meinen Alltag einbauen kann. Du hast bestimmt schon Erfahrungen gesammelt und Lösungsansätze gefunden, die mir und vielleicht auch anderen Leser:innen helfen werden.

Hast Du einen Tipp für mich?

Ich freue mich darauf von Dir zu lesen, Deine

Helga

Interessante Links:

Ordnungswunder: „17 Profi-Tipps, die dir garantiert beim Ausmisten und Entrümpeln helfen, wenn du nicht weiterkommst“

Flowers & Candies: „Für mehr Luft im Leben – warum Ausmisten der Knaller ist!“

Das Haus: „Ausmisten: Die 7 besten Tipps, die wirklich funktionieren“

Deine klare Linie: „Umgekehrt ausmisten“

Flowers & Candies: „Mein überraschender Weg in den Minimalismus“

WDR Mediathek – Der Haushaltscheck: „Ausmisten, aufräumen, Ordnung schaffen – sechs Regeln zum Erfolg“ (Verfügbar bis 26.07.2025)

HR Mediathek – Die Aufräumexpertin: „Wie entrümple ich meinen Keller“ (S01/E01) (verfügbar bis 20.11.2024)

Stadttauben: Friedenstaube oder Krankheitsüberträger?

Stadttauben: Friedenstaube oder Krankheitsüberträger?

Tauben – sie werden gehasst, gezüchtet und geliebt. Einerseits ein Friedenssymbol, andererseits die Ratten der Lüfte. Die Meinungen über die Tauben sind vielschichtig und aus dem Stadtbild sind sie kaum wegzudenken.

In Deutschland gibt es etwa 8 Mio. Tauben und in den Innenstädten fühlt sich Mensch schon mal bedrängt, wenn sie auf der Suche nach Nahrung einem kaum von den Füßen weichen. Sie sitzen gern in Nischen und machen es sich bequem, sofern der Mensch nicht auf den Gedanken kommt, Gitternetze davor zu spannen oder die schönen Sitzplätze auf Mauervorsprüngen und Dachbalken mit Spikes zu versehen.

Sie sind die „zahmen“ Nachkommen der Felsentauben und finden immer ein kleines Fleckchen, auf das sie sich zurückziehen können, wenn sie nicht nach Nahrung suchen müssen. Doch je mehr Tauben in der Stadt unterwegs sind, desto mehr Taubenkot verunreinigt und beschädigt die Gebäude und Fassaden, die sich zudem in luftiger Höhe nur schwer säubern lassen.

Das Augsburger Stadttaubenkonzept

Das Augsburger Stadttaubenkonzept“ wurde vor über 25 Jahren ins Leben gerufen und hat zu einer deutlichen Verbesserung für das Zusammenleben von Mensch und Tier geführt.

Die Tauben werden in städtischen Taubenschlägen mit artgerechtem Futter versorgt und brauchen nicht mehr in den Fußgängerzonen nach „ungesunder“ Nahrung zu suchen. Haben sie einen Schlag, also einen Standort gefunden, bleiben sie diesem auch treu. Sie bekommen ihr Futter und brauchen die Anwohner nicht mehr zu belästigen. Sie ziehen sich gerne zurück, auch um zu brüten, was sie übrigens bis zu 9 x pro Jahr tun. Dennoch sind sie frei und können den Schlag jederzeit verlassen und ausfliegen.

Taubenmanager:innen versorgen die Tiere regelmäßig. Sie füttern, bringen verletzte Tiere zum Tierarzt, säubern die Schläge von Kot und tauschen die gelegten Eier gegen Kunsteier aus. Schlüpft nichts aus, werden diese nach einiger Zeit nicht mehr bebrütet und die Kunsteier werden entfernt. Dadurch kann die Population sehr gut reguliert werden, was beiden Seiten zugutekommt.

Übertragen Tauben Krankheiten?

Im Bericht von Nano auf 3Sat (ab Minute 17:30) erklärt der Pathologe Daniel Nobach, CVUA Stuttgart, dass in Stadttauben über 100 Krankheitserreger nachgewiesen wurden, davon können sieben auch für den Menschen gefährlich werden. Doch laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind Tauben als Überträger äußert selten.

Doch die Wahrscheinlichkeit sinkt, wenn die Tiere gut versorgt werden und die Taubenschläge regelmäßig gereinigt und desinfiziert werden, wie es das Augsburger Stadttauben-Konzept vorsieht. Silvie Brucklacher-Gundzenhäußer ist Taubenbeauftragte in Stuttgart. Sie betreut die Stadttauben seit über 15 Jahren und ist noch nie angesteckt worden, obwohl sie stets ohne Maske und Schutzkleidung arbeitet.

Andere Städte haben das Modell übernommen und kommen im o. g. Beitrag auf Youtube ebenfalls zu Wort.

Wir finden, dass ist ein sehenswerter Beitrag und freuen uns auf Deine Anmerkungen dazu.

Weitere interessante Links:

Video-Beitrag auf Youtube, Stadt Ingolstadt: Das Augsburger Stadttaubenkonzept

Stadttauben Lüneburg e.V. Stadttauben Lüneburg

Stadt Augsburg: Das Augsburger Stadttaubenkonzept

Video-Beitrag auf 3Sat (ARD Mediathek) Nano vom 15.05.2024: Das Stadttaubenprojekt Stuttgart ab Minute 17:30 (Verfügbar bis 15.05.2029)

Ein Interview mit der Trauerrednerin Claudia Engel, Rede.Engel

Ein Interview mit der Trauerrednerin Claudia Engel, Rede.Engel

Sie liest gerne. Sie ist empathisch. Sie schreibt wertschätzend über das Leben anderer.

Claudia Engel ist Trauerrednerin und begleitet Menschen ein Stück des Weges, damit sie sich im Guten an den schweren Tag der Beerdigung, den Abschied ihres geliebten Angehörigen erinnern können. Sie schreibt und hält die Trauerrede, gestaltet und leitet nach den Wünschen der Angehörigen die gesamte Beerdigung.

Hallo Frau Engel, welches Gefühl entsteht, wenn Sie eine Trauerrede halten – sowohl bei Ihnen als auch bei den Trauernden?

Bei mir entsteht Zufriedenheit, wenn ich in die Gesichter der Anwesenden blicke und wenn ich hinterher ihre Rückmeldung bekomme, wie: „Das war eine schöne Trauerfeier.“ Denn dann ist es mir gelungen, das Wesen, die Persönlichkeit des verstorbenen Menschen noch einmal lebendig werden zu lassen.

Die Trauergäste sind sehr dankbar, dass der letzte Abschied in einem würdevollenm Rahmen stattgefunden hat, und sie sich an schöne Augenblicke erinnern konnten. Wie ein heller Lichtstrahl, der sich leichtfüßig seinen Weg durch die Trauer bahnt. Oft sind positive Gedanken durch die schweren Tage in den Hintergrund gerückt.

Sie blicken auf einen erstaunlichen Lebenslauf zurück, der viele Facetten bereithält. Was hat Sie dazu bewegt, als Trauerrednerin tätig zu werden?

Meine Lebenserfahrung beinhaltet einige Stationen, wie das Germanistikstudium, das Studium der Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte in München. Ich war als Fernsehredakteurin immer an sozialen Themen interessiert und komme schnell mit Fremden in Kontakt, die sich mir öffnen können. Mich berühren die Geschichten, die sie mir erzählen und ich lerne viel daraus. Beim Fernsehen habe ich Unterhaltungssendungen, wie z. B. die ARD-Talkshow „Fliege“ (die fast 11 Jahre zum Nachmittagsprogramm gehörte) oder die Kabarettsendung „Ottis Schlachthof“ entwickelt und aufgebaut. Danach war ich 17 Jahre als Pressereferentin für Fraueneinrichtungen tätig. Auch bei dieser Aufgabe hatte ich immer wieder mit Bruchstellen im Leben anderer Menschen zu tun. Nachdem ich ins Ruhrgebiet zurückkam, blieb ich vorerst bei meiner Tätigkeit, doch sie erfüllte mich nicht mehr so wie früher.

Ich habe eine Pause eingelegt und mich gefragt, was mir Spaß macht. Dabei wurde mir klar, dass es um eine Kombination meiner Kompetenzen geht. Zum einen bin ich Journalistin und zum anderen baue ich gern eine Verbindung zu anderen Menschen auf.
Während einer Trauerfeier hatte ich schon vor ein paar Jahren einen wirklich schlechten Trauerredner erleben müssen. Wie das im Leben oft geschieht, fiel mir ein Artikel der Süddeutschen Zeitung ins Auge. Ein Trauerredner schrieb über seinem Alltag, über seine Aufgaben und von den bereichernden Begegnungen. Dieser Beitrag hat mich inspiriert, mich mit dieser Tätigkeit auseinanderzusetzen und ich stellte fest, das passt wunderbar zu dem, was ich schon mitbringe. Ich machte mich auf die Suche, nach einer entsprechenden, qualifizierten Ausbildung, um mein vorhandenes Handwerkszeug noch zu verfeinern.

Der Gedanke, meine gebündelten Fähigkeiten in dieser Tätigkeit nutzen zu können, fühlte sich wirklich gut an. Große Empathie, gutes Wortgefühl und meine Lebenserfahrungen sind optimale Grundlagen, um „fühlige“ Texte zu schreiben und den verstorbenen Menschen mit seiner Geschichte, mit seinem Wesen, mit dem, was ihn ausmachte in der Trauerrede widerzuspiegeln.

Rückblickend wird deutlich, dass es eine Art berufliche Neuorientierung war. Sie fand mit dem Beginn der Selbstständigkeit als Trauerrednerin im November 2022 ein Ende und beinhaltete gleichzeitig einen wunderbaren Neuanfang.

Liebe Frau Engel, wie können sich unsere Leser:innen Ihre Tätigkeit vorstellen? Wie finden Angehörige zu Ihnen und wie sieht Ihr Alltag bzw. der weitere Ablauf dann aus?

Entweder werde ich von den Bestatter:innen empfohlen, im Internet gefunden oder es hat mich schon jemand als Trauerrednerin erlebt und erinnert sich. Im ersten Schritt telefonieren die Hinterbliebenen mit mir, um einen Termin zu vereinbaren.

In das Gespräch vor Ort gehe ich mit einer totalen Offenheit, daich vorher nicht weiß, was mich erwartet. Meine „Antennen“ sind ausgefahren, um die trauernden Angehörigen gut einschätzen und aufmerksam hinhören zu können.

Ich strahle Ruhe und Gelassenheit aus und gebe den Anwesenden die Zeit, die sie brauchen, um ihre Gedanken und ihre Gefühle zu sortieren. In diesen Gesprächen bin ich emotional auf mein Gegenüber fokussiert. Mit großer Sensibilität leite ich durch das Gespräch, und behalte alle offenen Fragen im Blick, damit ich von möglichst vielen Facetten der verstorbenen Person erfahre. Eine Tochter hat das einmal auf den Punkt gebracht: „Frau Engel, vielen Dank für das wunderbare Gespräch, das war fast wie eine Therapiestunde für mich.“ Die Angehörigen kommen manchmal für den Moment in eine andere Stimmung, denn wir gehen im Gespräch zurück und betrachten den gesamten Lebensweg der Verstorbenen. Das lässt die letzten, schweren Tage vergessen, es fällt ihnen wieder etwas ein und sie lächeln plötzlich. Dann wird das Herz etwas weiter, was sich vorher zusammengezogen hatte.

Nach diesen Vorgesprächen brauche ich erst einmal Stille. Mitunter gibt es Probleme in den Familien und ich spüre, wenn Spannungen vorhanden sind. Manchmal ist die Todesursache schwierig, wie beispielsweise ein Selbstmord. Oder es ist ein Kind, ein junger Familienvater verstorben – und die Angehörigen sind in einem schockartigen Zustand. Ich fahre nach Hause, habe das Radio ausgeschaltet und lasse das Gespräch in mir nachwirken.

Zusammengefasst sieht es – zeitlich betrachtet – so aus, dass ich zum ca. 2-stündigen Vorgespräch mit den Angehörigen fahre. Danach schreibe ich die Trauerrede und übe sie ein, das dauert etwa 4 Stunden. Die Beerdigung selbst dauert auch nochmal 1 – 2 Stunden. Mit Fahrtzeiten bin ich etwa 8 – 9 Stunden beschäftigt. Die Kosten bewegen sich ab 400 Euro aufwärts und es gibt regionale Unterschiede.

Herzlichen Dank für die Zusammenfassung. Jetzt möchte ich von Ihnen wissen: Was war ein ganz besonderer Moment, der bei Ihnen einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat?

Eine Trauerfeier wird mir immer besonders in Erinnerung bleiben. Der Abschied fand vor der Seebestattung in einem Lokal am Baldeneysee, in einem separaten Raum statt. Die Urne war mit dem Kranz und den Kerzen wunderschön aufgestellt. Die Angehörigen sollten persönliche Erinnerungsstücke mitbringen, die neben mir auf einem Tisch lagen. Ich habe die Trauerrede gehalten und mich dann den mitgebrachten Gegenständen auf dem Tisch gewidmet. Jedes Erinnerungsstück wurde von mir anmoderiert und die jeweiligen Trauergäste haben die dazugehörige Anekdote erzählt, so dass viele Geschichten geteilt wurden. Es war eine wahrlich würdevolle Trauerfeier, die den Hinterbliebenen viel gegeben hat.

Das hört sich wundervoll an und es ist nachvollziehbar, welch schöne Erinnerungen dadurch wieder wach werden. Damit unsere Leser:innen ähnliche Erlebnisse machen können, was ist aus Ihrer Erfahrung in den Vorgesprächen besonders wichtig? Worauf sollten Angehörige im Trauerfall achten?

Der Beruf des Bestatters ist traditioneller Weise eine Männerdomäne. Denn früher waren es häufig Schreiner, die sich auf Bestattungen spezialisiert haben, da sie auch die Särge herstellten. Oftmals wurde das Geschäft an eines der Kinder weitergegeben. Wenn heutzutage ein Bestatter in Ruhestand geht und niemand aus der Familie den Betreib weiterführen möchte, kauft ihn ein anderer Bestatter. Der alteingesessene Name bleibt jedoch bestehen. Gut ist, dass immer mehr Frauen Bestattungshäuser gründen, gerade in Großstädten wie Berlin oder München. Man(n) bleibt auch gern unter sich, so dass es für Trauerrednerinnen wie mich nicht einfach ist, über die Bestattungshäuser empfohlen zu werden. Das mag jetzt vielleicht etwas bitter klingen, aber immer wieder erzählen mir Hinterbliebene von Trauerfeiern, die sie entsetzlich fanden und die alles andere als individuell und persönlich waren.

Mein Tipp für Ihre Leser:innen: Recherchieren Sie kurz im Internet, hören Sie auf Ihr Bauchgefühl, gehen Sie nach Sympathie. Beim ersten Telefonat wird meistens schon klar, ob das passen könnte oder nicht. Dabei ist spürbar, ob jemand gut mit Worten umgehen kann und wie der Klang der Stimme ist.

Beim Schreiben der Trauerrede kann ich nur für mich sprechen. Mir ist wichtig, dass ich den Anwesenden mit meinen Worten und Gedankengängen etwas geben kann. Ich möchte den Verstorbenen authentisch darstellen und nicht mit Floskeln oder pauschalen Aussagen um mich werfen. Im letzten Teil der Rede geht es um den Ausblick: eine Hoffnung, den nächsten und übernächsten Tag, und darum, den Angehörigen kleine, gedankliche Samenkörner mitzugeben, die vielleicht aufgehen werden.

Vielen Angehörigen ist es wichtig, dass sie nach einem würdevollen Abschied sagen könnten: „Das hätte ihm oder ihr wirklich gut gefallen.“ Wem die Beisetzung am Herzen liegt, nimmt sich die halbe Stunde, um nach der besten Option zu recherchieren und vermeidet es, sich nur auf eine einzige Person zu verlassen.

Liebe Frau Engel, was liegt Ihnen besonders am Herzen und was verstehen Sie unter dem Begriff „Würde“?

Es ist schade, dass der Tod in den Familien nicht mehr thematisiert wird. Er gehört zum Leben dazu, und zwar: seit wir geboren sind steht fest, wir werden irgendwann sterben. Doch das Thema wird nicht angefasst, auf die lange Bank geschoben und verliert sich dann im Laufe der Zeit. Dadurch fehlt den Angehörigen das Wissen über die Wünsche der Verstorbenen und mir liegt am Herzen, dass mehr Menschen ihren Mut zusammennehmen, um das Gespräch in den Familien zu führen.

Mit dem Wort „Würde“ geht für mich einher, die verstorbene Person mit all ihren Lebensinhalten zu sehen, das Leben an sich zu würdigen und mich davor zu verneigen. Den Angehörigen gegenüber ist es dasselbe. Das, was ich im Vorgespräch höre, spüre und wahrnehme so stehen zu lassen, es wertzuschätzen und jeden so sein zu lassen, wie er ist. Das ist Würde.

In Bezug auf die Trauerfeier umfasst die „Würde“ einen gewissen Rahmen, einen Raum der Stille, der Wachheit, eine getragene Atmosphäre, in der ein Mensch verabschiedet wird. Der Rahmen entsteht durch eine konzentrierte Stille und die besondere Atmosphäre in der Trauerhalle. Wir geben dem Verstorbenen einen Raum, wir gedenken seiner. Würde ist für mich die Verneigung vor dem Leben, welches wir verabschieden.

Auf Ihrer Website gibt es einen Menüpunkt „Trauerhallen“ und „Hinterzimmer“. Was hat es damit auf sich?

Ich habe Kunstgeschichte studiert und Architektur interessiert mich von Hause aus. Die Fotos sind als Dokumentation der jeweils ganz eigenen Trauerhallen und ihrer Innenräume gedacht und dienen den Angehörigen dazu, sich mit diesem Raum vorher schon ein wenig vertraut zu machen. Sie vermitteln einen ersten Eindruck von der jeweiligen Atmosphäre. Es gibt fast in jeder Trauerhalle einen Raum, in dem sich der Pfarrer umziehen kann. Er dient mir dazu, mich auf das Begleiten der Trauerfeier und das Halten der Trauerrede vorzubereiten. Diese Räume sind dem Trauergast unbekannt – deshalb fotografiere ich sie und nenne sie „Hinterzimmer“. Es ist immer wieder eine Überraschung, was sich in diesen Räumen verbirgt. Schauen Sie auf meine Website, sie werden erstaunt sein …

Liebe Frau Engel, was möchten Sie unseren Leser:innen mit auf den Weg geben? Haben Sie Tipps oder Erkenntnisse, die Sie teilen möchten?

Auf meiner Website im Blog habe ich einige Tipps mit ergänzenden Erklärungen zusammengefasst, auf die ich an dieser Stelle gern hinweisen möchte.

  • Augen auf bei der Wahl des Bestattungshauses
  • Gedanken über die Gestaltung der Trauerfeier
  • Die Trauerrede: Das Herzstück einer würdevollen Trauerfeier
  • Zeitfenster bedenken
  • Auswahl der Trauerredner:in
  • Kosten und Budget

Und gern können mich Ihre Leser:innen über die Kontaktmöglichkeiten anschreiben, wenn Sie Fragen haben.

Herzlichen Dank für das kurzweilige Interview Frau Engel. Sie haben uns bereichernde Einblicke in Ihre Tätigkeit ermöglicht und wir wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute!

Kontaktdaten:

Rede.Engel
Claudia Engel
Weißdornweg 10
45133 Essen

Telefon: +49 171 1938252
E-Mail

Website
Instagram
Facebook

Buchtipp:
Trauer ist das Ding mit den Federn von Max Porter, ISBN-10: ‎ 3446249567 / ISBN-13: ‎ 978-3446249561
Link zu Amazon

Filmtipp: Wie Ikea den Planeten plündert

Filmtipp: Wie Ikea den Planeten plündert

Eine Arte TV Dokumentation zum Nachschauen

Durch Zufall habe ich eine Dokumentation (Links am Ende des Textes) gesehen, in der es um IKEA ging. Der Aufstieg des Gründers Ingvar Kamprad, seine genialen Schachzüge in der Marktentwicklung, effizienter Produktion, Vertriebsstrategien inklusive des Neuromarketings, Produktionsverlagerungen ins Ausland und dem weltweiten Ankauf von Waldgebieten.

Die von mir vermutete Erfolgsstory bekam spürbare Risse, als sich Zahlen, Bilder und Fakten zu einem düsteren Bild verdichteten.

Die offizielle Beschreibung der Arte-Produktion

Billy, Kallax, Lack: Die Produkte stehen in Wohnzimmern auf der ganzen Welt. Als weltweit führender Möbelproduzent verarbeitet IKEA jedes Jahr 20 Millionen Kubikmeter Holz. Trotz des immensen Verbrauchs wirbt der Großkonzern mit Umweltbewusstsein. Zu Recht? Der Dokumentarfilm deckt die weltweiten Verbindungen zwischen dem Möbelmulti und einer unkontrollierten Holzproduktion auf.

Um Produkte wie das Bücherregal „Billy“, das Regal „Kallax“ und den Beistelltisch „Lack“ auf der ganzen Welt verkaufen zu können, verarbeitet der Großkonzern jedes Jahr alle zwei Sekunden einen Baum. Trotz dieses immensen Verbrauchs wirbt der Konzern, der einen Jahresumsatz von über 44 Milliarden Euro erwirtschaftet, mit Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit. Ein grünes Image, das beim Verbraucher ankommt.

Doch die Realität sieht anders aus. Das Arte Filmteam verfolgte mehr als ein Jahr die Produktionskette von IKEA – von den Wäldern im hohen Norden Schwedens über die Küsten Neuseelands bis hin zu Plantagen in Brasilien und Waldgebieten in Polen und Rumänien. In einer internationalen Recherche deckte das Team die Verbindungen zwischen dem Möbelmulti und einer intensiven und unkontrollierten Holzproduktion auf.

Die Dokumentation untersucht, wie IKEA trotz ständiger Wiederaufforstung zur Zerstörung der Biodiversität beiträgt und den illegalen Holzhandel befeuert. Zum Beispiel in Rumänien, wo der Konzern 50.000 Hektar Wald besitzt und unterdurchschnittliche Produktionsbedingungen herrschen. Hier begehren Aktivistinnen und Aktivisten unter Lebensgefahr gegen die Holzmafia auf. „Wie IKEA den Planeten plündert“ gewährt Einblicke in ein globales Unternehmen, das mit seinem diskreten und expandierenden Holzbusiness Profit macht – als sei dieser Rohstoff, der im Kampf gegen den Klimawandel eine entscheidende Rolle spielt, unerschöpflich.

(Quelle: www.arte.tv)

Auszüge aus der Dokumentation, die mir eine Gänsehaut verursacht haben:  

Wie die Maus vor der Schlage hing ich vor dem Bildschirm und konnte mich nicht davon lösen. Warum das so war, kannst Du vielleicht an diesen einzelnen „Puzzlestücken“ erkennen, obwohl hier der gesamte Kontext nicht ersichtlich ist.

  • Nur 1% des Waldes wird geerntet, für jeden gefällten Baum werden 2 neue gepflanzt.
  • Ikea, eine Marke die sich jeder leisten kann. Aber zu welchem Preis?
  • Nadelbäume mit einem Stammumfang von über 250 cm haben Bestandsschutz. Das verhindert aber nicht, dass sie zur Abholzung markiert werden.
  • „Der Wald nützt uns als Wald viel mehr als nur das Holz.“
  • Früher wurden Möbel vererbt, heute kauft man ein Möbelstück und wirft es nach einigen Jahren wieder raus. Die Kunden kaufen, als wären die Rohstoffe unbegrenzt verfügbar.
  • Das Warenangebot, der Preis und das Marketing steuern den Konsum.
  • Produziert wird in verschiedenen Ländern mit Holz aus verantwortungsvoller Waldwirtschaft, so das Unternehmen. Die Reporter konnten sich davon nicht überzeugen, da IKEA den Zutritt verweigert hat.
  • „Es ist schon bemerkenswert, wie perfekt es Unternehmen verstehen, ein grünes Bild von sich zu zeichnen – in Bezug auf Nachhaltigkeit und Verantwortung. Wenn wir nachfragen: Schweigen. Wenn sie nichts zu verbergen haben, warum können sie dann nicht ihre Lieferketten offenlegen?“ (Lina Burnelius, NGO Protect the Forest, Schweden)
  • IKEA ist der größte Holzkonsument der Welt. Um das Holz möglichst billig einzukaufen, um die Verbraucherpreise niedrig zu halten, schauen sie plötzlich nicht mehr so genau hin und fangen an, die letzten unberührten Wälder abzuholzen, weil es sonst keine mehr gibt, so der ehemalige Assistent des Firmengründers, Johan Stenebo.
  • Jedes Jahr verleibt sich IKEA etwa 1 % der globalen Holzernte ein. Der Konzern hat eigene Wälder angekauft, um seinen Bedarf zu decken. Heute besitzt er weltweit über 280.000 Hektar Wald.
  • „Was Fast Fashion, Fast Food und Fast Furniture gemeinsam haben, sind niedrige Preise und eine massive Umweltbelastung. Wenn etwas sehr günstig angeboten wird, zahlt mit Sicherheit irgendwer die Zeche. In diesem Fall zahlt die Natur den Preis für die Billigprodukte.“
  • Der Konzern erklärt, dass seine Wälder vom unabhängigen Forest Stewardship Council (FSC) kontrolliert werden und der habe nichts zu beanstanden. Doch was ist das Siegel tatsächlich wert, auf das sich IKEA beruft? Die Zertifizierer wurden von denen bezahlt, die das Holz haben wollten.
  • Der Verein für Umweltschutz „Agent Green“ führt mehr als 350 Prozesse gegen die Regierung wegen mangelnder Transparenz, Genehmigungen von Holzeinschlag, der gegen die EU-Richtlinien verstößt. In den letzten 2 Jahren wurden in den rumänischen Schutzgebieten mehr als 13 Mio. Kubikmeter Holz entnommen.
  • Zum Abtransport der Stämme wird der Boden aufgerissen und der Erosion ausgesetzt. „Sie führen Kahlschläge durch, holzen ganze Hänge ab und man kann deutlich sehen, wo sie schon waren. Zu allem Überfluss ist die Fläche auch noch FSC-zertifiziert, die Verbraucher haben keine Ahnung, dass der FSC auch Holz aus Kahlschlag, aus Nationalparks und aus Primärwäldern zertifiziert.“
  • Solange die EU Rumänien nicht vor den Europäischen Gerichtshof bringt, wird sich nichts ändern, die illegalen Fällungen werden weitergehen.
  • Paradox ist, dass etwa 40% der Fläche in Europa bewaldet ist, wir aber keine Europäische Waldpolitik haben. Klima und Artenschutz ist in Europäischer Hand, während die Forstpolitik nationale Politik ist. Wir haben nicht mal eine gemeinsame Definition für die nachhaltige Waldwirtschaft in der EU.
  • Schweden hat eine aktive Methode der Waldbewirtschaftung entwickelt. Diese Methode basiert auf Monokulturen, jede Parzelle wird mit Bäumen einer einzigen Art bepflanzt, die einige Jahrzehnte später neu geerntet werden.
  • Schweden ist nicht führend in nachhaltiger Forstwirtschaft, sondern in Greenwashing.
  • Wir vernichten die letzten kostbaren Wälder, anstatt sie zu schützen. Unsere Forstwirtschaft ist extrem klima- und umweltschädlich.
  • Nur wenige Kilometer vom Polarkreis entfernt zeigt sich, dass die Forstindustrie ganze Arbeit geleistet hat. Auch viele Jahre nach dem Einschlag gleicht das Gebiet einem Trümmerfeld; fast nichts ist nachgewachsen.
  • Der Forstexperte Jon Andersson zeigt auf ein kahlgeschlagenes Gebiet und erklärt, dass von dort das Holz von IKEA kommt, nicht von extra dafür gezogenen Bäumen. Das sind Jahrtausende alte Wälder, aus denen Möbel gefertigt werden, die nach 15 oder 20 Jahren auf der Deponie landen und verbrannt werden. Das erscheint mir ziemlich unnötig.
  • Durch das Verschwinden der Urwälder, finden die Tiere immer weniger Nahrung. Das schwedische Fortwirtschaftsmodell gefährdet die Rentier-Herden. 50 – 60 % der Weidefläche wurden durch die Forstindustrie zerstört.
  • Angesichts zunehmender Wetterextreme, scheint es an der Zeit, die wertvollsten Ressourcen unseres Planeten zu schonen und den Appetit der Forstindustrie zu zügeln.

Fazit:

Aus einer guten Idee und einer ständigen Weiterentwicklung ist der IKEA-Konzern bis zum heutigen Tag gewachsen. In einer Zeit der Diskussionen um nachhaltiges Wirtschaften, Umweltbewusstsein und Ressourcenschonung, sollte man sich an den eigenen Ehrenkodex halten. An die Werte, die man schon zu Beginn auf der Fahne stehen hatte.

Das Umschwenken auf Gewinnmaximierung ist – und das nicht nur in dieser Branche – durchaus üblich, doch ich würde mich freuen, wenn immer mehr Unternehmen sich doch an ihre Grundwerte erinnern und diesen Weg gehen. Davon profitieren letzten Endes unsere Welt und ihre Bewohner.

Die Links zum Beitrag:

Arte Mediathek: „Wie Ikea den Planeten plündert“ (verfügbar bis 26.09.2024)

Youtube: „Wie Ikea den Planeten plündert | Doku HD | ARTE“ (Reupload)