Mitternachtsmission Teil 2: Hilfe für die Opfer von Menschenhandel

Mitternachtsmission Teil 2: Hilfe für die Opfer von Menschenhandel

Andrea Hitzke ist Sozialarbeiterin und leitet seit 2012 die Dortmunder Mitternachtsmission e.V., die eine Beratungsstelle für Prostituierte, Ehemalige und Opfer von Menschenhandel unterhält. Der Verein ist bundesweit anerkannt und Mitglied im Dachverband des Diakonischen Werks. Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.

Hallo Andrea, herzlichen Dank für Deine Zeit, uns ein Interview zu geben. Im ersten Teil haben wir über die Hilfe von Sexarbeiter:innen gesprochen. Jetzt wollen wir über die Hilfen für Opfer von Menschenhandel sprechen. Warum betrachtet ihr diese beiden Bereiche separat?

Wir sehen die beiden Bereiche getrennt, da die jeweilige Situation unterschiedlich ist. Mit der Prostituiertenhilfe unterstützen wir Sexarbeiter:innen, die sich aus unterschiedlichen Gründen zur Ausübung der Prostitution entschieden haben. Sie treffen eigene Entscheidungen in Bezug auf ihre Arbeitsbedingungen. Opfer von Menschenhandel sind jedoch Betroffene eines Verbrechens, die zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zur Prostitution gezwungen werden. Sie sind meist stark traumatisiert. Diesen Menschen bieten wir, als spezialisierte Fachberatungsstelle (FBS) für Opfer von Menschenhandel im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen, Hilfe und Schutz an und arbeiten dabei gut mit den Behörden und der Polizei zusammen.

Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit ist durch die Schutzbedürftigkeit der Opfer nachvollziehbar. Doch bevor wir darauf weiter eingehen, möchte ich die Begrifflichkeiten klären: Menschenhandel wird häufig mit dem Begriff der „Schleusung“ in Verbindung gebracht. Was ist der Unterschied?

Mit „Schleusung“ ist die Hilfe bei einem illegalen Übertreten einer nationalen Grenze gemeint. Dazu gehört auch, den illegalen Aufenthalt in Deutschland zu unterstützen. Die Schleuser:innen schlagen Profit aus dem Grenzübertritt.

Beim Menschenhandel resultiert der Profit aus der Ausbeutung einer Tätigkeit der Person. Beim Menschenhandel kann auch Schleusung eine Rolle spielen, es sind aber separate Straftatbestände.

Auch Personen, die sich freiwillig zur Prostitution entschieden haben, können Opfer von Menschenhandel werden. Durch fiktive Schulden werden sie in ein Abhängigkeitsverhältnis gezwungen, in dem sie nicht selbst über ihre Arbeitsbedingungen entscheiden können.

Wie kommen die Betroffenen zu Euch und wie geht es dann weiter?

Die Betroffenen nehmen teilweise direkt Kontakt zu uns auf, über unsere Streetworkerinnen, per Telefon oder über das Internet. Meistens werden sie jedoch von anderen Personen auf das Angebot der Fachberatungsstellen hingewiesen, von medizinischem Personal, von Bekannten, von Freiern oder von Behörden, wenn sie den Mut haben sich zu öffnen.

Überwiegend sind es weibliche Personen, die zu uns in die Beratung kommen und die Opfer von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung sind. Doch auch Männer und Transgender-Personen sind unter den Betroffenen. Wir haben viele Klient:innen, die hier oder in anderen europäischen Ländern sexuell ausgebeutet wurden und aus Drittländern, meist aus westafrikanischen Ländern, stammen. Sie konnten sich aus der Zwangslage befreien und suchen Schutz bei uns.

Wir versuchen dann herauszufinden, was passiert ist. Die Beratungsgespräche finden nach Möglichkeit in der Muttersprache statt. Glücklicherweise beschäftigen wir, durch Projektförderungen durch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung und des DW RWL (Diakonisches Werk Rheinland Westfalen Lippe), muttersprachliche Mitarbeiterinnen, ohne die die Arbeit nicht möglich wäre. Wir arbeiten mit den Behörden und der Polizei zusammen, um eine sichere Unterbringung und die psycho-soziale Betreuung zu gewährleisten.

Die Gesetzeslage schreibt eine Bedenk- und Stabilisierungsfrist für die – meist schwer traumatisierten – Menschen von mindestens drei Monaten vor. In diesem Zeitraum können sie sich erholen und überlegen, ob sie mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten wollen, damit den Menschenhändlern das Handwerk gelegt werden kann. Wir helfen den Betroffenen einen Asylantrag zu stellen, bei Behördengängen und bei der Integration in ein normales Leben. Unsere Aufgabe ist es auch, die Öffentlichkeit für die Situation der Betroffenen zu sensibilisieren.

Der Menschenhandel ist in den letzten Jahren verstärkt öffentlich thematisiert worden. Trotzdem gibt es immer wieder neue Opfer, die auf die „Masche“ reinfallen. Wie kommt das?

In einigen Ländern gibt es Öffentlichkeitskampagnen, die aber die Betroffenen häufig nicht erreichen. Oder sie denken, dass diejenigen, die Opfer von Menschenhandel und Ausbeutung wurden, etwas falsch gemacht haben. Die Vorschläge nach Deutschland zu gehen, um Geld zu verdienen und die Familie damit zu unterstützen, klingen glaubhaft, kommen oftmals aus dem sozialen Umfeld, manchmal werden konkrete Arbeitsstellen benannt, wo sie arbeiten werden.

Hoffnungsvoll treten sie die Reise nach Europa oder direkt nach Deutschland an und haben auf dem Weg meist schon massive Gewalterfahrungen gemacht. Sie werden nicht als Menschen, sondern als Ware betrachtet und so behandelt. Sie werden in verschiedenen Ländern der Prostitution zugeführt und gezwungen, die Kosten für die „Reise“ abzuarbeiten. Das verdiente Geld wird ihnen abgenommen oder sie dürfen nur einen kleinen Anteil behalten.

Viele Frauen und junge Männer kommen aus Afrika zu uns. Vor der Abreise werden insbesondere Nigerianerinnen in einer Voodoo-Zeremonie zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet. Sie müssen schwören, dass sie nichts gegen die Täter:innen unternehmen werden. Teilweise wird der Schwur bei der Ankunft in Europa nochmal erneuert. Ihnen wird gedroht, dass sie, falls sie sich nicht daran halten, einen schrecklichen schmerzhaften Tod sterben würden. Auch die Familien werden bedroht. Dadurch wird eine solche Angst erzeugt, dass die Opfer tatsächlich schweigen und eine Strafverfolgung der Täter:innen sehr schwierig ist.

Andrea, die Mitternachtsmission ist Mitglied im KOK (Bundesweiter koordinierungskreis gegen Menschenhandel) e.V.. Kannst Du unseren Leser:innen dazu etwas sagen?

Der KOK e.V. wurde 1987 gegründet und vereint heute 38 Mitgliedsorganisationen, u. a. Fachberatungsstellen, Migrantinnen-Projekte, Frauenhäuser, Prostituiertenberatungsstellen und andere Organisationen, die sich gegen Menschenhandel engagieren, unter seinem Dach. Mit dem Fokus auf die Bekämpfung von Menschenhandel und Ausbeutung sowie auf die Durchsetzung der Rechte von Betroffenen hat der KOK e.V. einen wichtigen Stellenwert. Wir, die Mitgliedsorganisationen, bringen das Fachwissen aus der Praxis mit und legen das Fundament der langjährigen Expertise. Der KOK vertritt unsere politischen und gesellschaftlichen Interessen in der Bundespolitik und in der Öffentlichkeit. Damit ist eine praxisbasierte Arbeit möglich, um weitere Verbesserungen für die Rechte der Opfer einzufordern.

Herzlichen Dank für das bewegende Gespräch. Ich möchte unsere Leser:innen noch darauf hinweisen, dass Ihr ein Spendenkonto habt. Aber Sachspenden, wie z.B. Kleidung, Schuhe, Hausrat usw. helfen Euch ebenfalls. Wir wünschen Dir und Deinem Team viel Erfolg bei dieser wichtigen Aufgabe!
Andrea Hitzke, Leiterin der Dortmunder Mitternachtsmission e.V.

Kontakt zur Dortmunder Mitternachtsmission e.V.

Dortmunder Mitternachtsmission e. V.
Dudenstraße 2-4
44137 Dortmund
Tel.: 0231/14 44 91
Website: http://mitternachtsmission.de/

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Online-Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche
KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
ECPAT Deutschland e.V.: Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung

Mitternachtsmission Teil 1: Hilfe und Beratung von Sexarbeiter:innen

Mitternachtsmission Teil 1: Hilfe und Beratung von Sexarbeiter:innen

Andrea Hitzke ist Sozialarbeiterin und leitet seit 2012 die Dortmunder Mitternachtsmission e.V., die eine Beratungsstelle für Prostituierte, ehemalige Prostituierte und die Opfer von Menschenhandel unterhält. Der Verein ist bundesweit anerkannt und Mitglied im Dachverband des Diakonischen Werks.

Hallo Andrea, herzlichen Dank für Deine Zeit, uns ein Interview zu geben. Bitte erzähle unseren Leser:innen, was macht die Mitternachtsmission eigentlich?

Die Dortmunder Mitternachtsmission e.V. macht sich für die sozialrechtliche Gleichstellung aller in der Prostitution arbeitenden Menschen und für die Beendigung von Diskriminierung und Kriminalisierung stark. Wir helfen unseren Klient:innen, ein gesundes, selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben in Sicherheit zu führen. Sie sollen sich frei von Angst bewegen und ihre Entscheidungen ohne finanzielle und emotionale Abhängigkeit treffen können.

Wir sind ein kleiner gemeinnütziger Verein, der im Jahr 1918 gegründet wurde. Wir missionieren nicht. Wir verstehen unseren Namen als Auftrag: wir beraten und unterstützen Menschen, die in der Sexarbeit tätig sind, helfen jenen beim Ausstieg, die eine andere berufliche Perspektive wollen, und wir bieten Schutz und Hilfe für Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution.  

Der Schwerpunkt der Arbeit mit Prostituierten liegt in der aufsuchenden Sozialarbeit, das heißt Streetwork an den Orten wo Sexdienstleistungen angeboten werden, wie z. B. auf der Straße, in Clubs oder Bordellen.

Unsere Arbeit besteht aus zwei Hauptbereichen, die wir unbedingt getrennt sehen: Die Arbeit mit Prostituierten und die Hilfen für Opfer von Menschenhandel.

Ein weiterer wichtiger Bereich ist das Hilfeangebot für Kinder und Jugendliche, die der Prostitution nachgehen. Das Angebot überschneidet sich zwar mit der Prostituiertenhilfe und der Hilfe für Opfer von Menschenhandel, doch die Minderjährigkeit der Zielgruppe schafft andere Rahmenbedingungen, daher betrachten wir diesen Bereich separat.

Die Prostituiertenhilfe umfasst sowohl die Beratung und Unterstützung von Menschen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen freiwillig für die Sexarbeit entschieden haben, als auch Hilfe für diejenigen, die aus dem Milieu aussteigen wollen.  

In der Prostitution arbeitende Menschen sehen sich häufig Diskriminierungen ausgesetzt und sind aus diesem Grund eher misstrauisch. Wie erreicht ihr die Prostituierten?

Unsere Streetworkerinnen sind ausgebildete Sozialarbeiterinnen und Pädagoginnen. Wir gehen dort hin, wo die Prostitution stattfindet. Wir kommen ins Gespräch mit den Frauen und bauen Vertrauen auf. Wir beraten vor Ort und bieten Hilfe an. Wir verteilen Kondome und klären im Bereich sexuell übertragbarer Infektionen auf. Wir helfen natürlich auch, wenn wir von Männern oder Transgender-Personen aus der Zielgruppe angesprochen werden.

Vor Corona waren wir zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten in den Clubs, Bars und Bordellen und auf dem Straßenstrich unterwegs, um mit den Sexarbeiter:innen zu sprechen. Mit dem Einsatz von mehrsprachigen Mitarbeiterinnen versuchen wir Sprachbarrieren zu überwinden und auch Prostituierte ohne Deutschkenntnisse zu erreichen.

Jetzt ist Coronazeit und das Kontaktverbot hat das gesamte Milieu lahmgelegt. Wie hast Du diese Einschnitte wahrgenommen und wie hat sich die Arbeitsweise verändert?

Das Corona bedingte Kontaktverbot hat die Prostitution zum Erliegen gebracht. Sexuelle Dienstleistungen sind verboten und die meisten Prostituierten haben seit März 2020 keinerlei Einkünfte mehr. Die Verzweiflung bei den Betroffenen ist unfassbar. Viele haben ihre Rücklagen aufgebraucht, um die Familie weiter ernähren zu können. Wertsachen werden verkauft, um über die Runden zu kommen. Wer seine Scham überwunden hat, konnte anfangs noch recht einfach einen Hartz IV Antrag stellen. Nun sind die Bedingungen für einen Sozialleistungsbezug deutlich schwieriger geworden. Teilweise werden Nachweise verlangt, die die Sexarbeiter:innen nicht beibringen können. Somit fallen sie aus dem Sozialleistungsbezug raus. Dies gilt auch für die Soforthilfen für Soloselbständige.

Ohne Hart IV fehlen sämtliche Einkünfte, die Miete kann nicht mehr bezahlt werden und Obdachlosigkeit ist eine der Folgen. Andere haben sich Geld leihen müssen und sind in Schuldenfallen geraten. Viele arbeiten illegal und unter unsicheren Arbeitsbedingungen, um ihre Familien versorgen zu können.

Einige Bordellbetriebe haben den wohnungslos gewordenen Prostituierten ihre Zimmer kostenlos zur Verfügung gestellt, damit sie eine sichere Unterkunft haben. Das ist ein Lichtblick, zumal die Betreiber:innen ja ebenfalls keine Einnahmen generieren können.

Mit dem Lockdown mussten wir unsere Arbeit umstrukturieren. Die Besuche vor Ort in den Clubs und Bordellen waren nicht mehr möglich, da sie geschlossen sind. Der Beratungs- und Unterstützungsbedarf war aber sehr hoch. Um auch die Mitarbeiterinnen zu schützen, wird Beratung überwiegend telefonisch oder per E-Mail durchgeführt, wenn das möglich ist. Das funktioniert aber nicht immer, so dass eine Face-to-Face Beratung notwendig ist. Dann können Termine vereinbart werden, entweder in der Beratungsstelle oder z. B. bei Hausbesuchen oder bei Beratungsspaziergängen. In der Beratungsstelle arbeiten wir nach einem Arbeitsplan und sonst im Homeoffice. 

Was sind die Gründe für den Einstieg in die Prostitution und worum geht es bei der nachgehenden Ausstiegshilfe für Prostituierte?

Einige Frauen entscheiden sich aus einer finanziellen Notlage heraus, in den Dienstleistungssektor zu gehen. Oft wissen die Angehörigen nichts davon und die Prostituierten sehen sich ständig der Gefahr ausgesetzt, dass die Tätigkeit entdeckt wird. Dann müssen sie mit Diskriminierung und Verachtung rechnen.

Häufig geht es auch um die Beschaffung von Geldmitteln für den Kauf von Drogen. Diese Frauen sehen sich selbst nicht als Sexarbeiterinnen. Sie entscheiden sich für diesen Weg an Geld zu kommen, statt Raubüberfälle zu begehen und damit in die Beschaffungskriminalität zu rutschen.

Mit der nachgehenden Ausstiegshilfe unterstützen wir Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen oder bereits ausgestiegen sind. Wir begleiten z. B. bei Behördengängen, unterstützen bei der Jobsuche und führen die Begleitung der Frauen auch über einen längeren Zeitraum durch.

Aktuell gibt es eine hitzige Diskussion um das „Schwedische Modell“. Was ist das und wie stehst Du dazu?

Das „Schwedische Modell“ soll Prostitution verhindern, indem u. a. der Kauf von sexuellen Dienstleistungen unter Strafe gestellt wird, um die Frauen vor Gewalt zu schützen. Wir fürchten, dass bei einer Einführung dieses Modells die Prostituierten in ein Dunkelfeld und die Illegalität gedrängt werden, sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern und das Risiko für die Sexarbeiter:innen steigt, Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Die Nachfrage wird dadurch nicht verschwinden. Die Kontaktaufnahme durch das Unterstützungssystem wäre nur noch sehr schwierig oder gar nicht möglich. Man könnte das Modell mit der Prohibition vergleichen. Wem hat sie letztendlich genutzt? Aufgrund der nicht versiegenden Nachfrage konnte die Mafia hohe Gewinne erzielen.

Liebe Andrea, herzlichen Dank für den Einblick in den Bereich der Prostituiertenhilfe. Wir wünschen Dir und Deinem Team weiterhin viel Erfolg.

Hinweis der Redaktion: Teil 2 des Interviews, in dem es um die Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution geht, erscheint demnächst in diesem Magazin.

Kontakt zur Dortmunder Mitternachtsmission e.V.

Dortmunder Mitternachtsmission e. V.
Dudenstraße 2-4
44137 Dortmund
Tel.: 0231/14 44 91
Website: http://mitternachtsmission.de/

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